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Just Spaces?

Fotografische Dokumentationen räumlicher (Un)Gerechtigkeiten

Wie können wir Räume gerecht planen, gestalten und nutzen? – Der diesjährige ARL-Kongress „Just Spaces – Gemeinwohl und Gerechtigkeit in räumlicher Planung und Entwicklung“ war dieser Leitfrage gewidmet, musste aufgrund der Covid-19-Pandemie aber leider abgesagt werden. Zugleich hatte die ARL erstmals einen Fotowettbewerb zum Kongressthema ausgeschrieben. Wir haben zahlreiche Fotoeinreichungen erhalten und möchten im Folgenden nicht nur die Gewinner/innen des Wettbewerbs vorstellen, sondern auch über die Idee des Fotowettbewerbs, die Jury und den Auswahlprozess berichten.


ARL Fotowettbewerb Just Spaces
© ARL

Die Prämierungen


Schikane
Erster Platz
Foto: Paul Karrenstein

Hang me out to dryLooking for Integration: Santa Cruz de
(Segundo Torrão bei Trafaria, Portugal)Tenerife (Spain) and its Red-Light District
Zweiter PlatzZweiter Platz
Foto: Lea Molina CamineraFoto: Marcus Hübscher


Futurland
Dritter Platz
Foto: Frank Amey

 

Die Jury

Dr.-Ing. Sonja Deppisch ist Mitglied der Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft. Sie leitet an der HafenCity Universität Hamburg den Forschungsbereich „Globaler Wandel und raumbezogene Strategien“ und forscht zu urbaner und regionaler Resilienz, deren Integration in die Raumplanung sowie zu Umgangsmöglichkeiten der räumlichen Planung mit Umwelt- und Klimawandel. Als Fotografin arbeitet sie in künstlerischen und dokumentarischen Projekten, unter anderem zu Grenzräumen.

Viola Schulze Dieckhoff ist Raumplanerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät Raumplanung der TU Dortmund. Sie arbeitet zu transformativen Aktionen und Planungspraktiken als Katalysatoren einer Postwachstumsplanung. Kunst ist für sie ein wesentliches Element einer gemeinschaftlichen und wachstumsunabhängigeren Raumentwicklung und -forschung. Dieses stärkt sie durch Engagement u. a. im Wall&Space e. V. – Transforming European Cities with Urban Art und bei den Urbanisten e. V.

Daniel Münderlein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Freiraumplanung an der Universität Kassel. Er erforscht die Weiterentwicklung von Stadtlandschaften und die Integration von produktiven Freiraumsystemen sowie Wechselbezüge zwischen Landschaft, Gesundheit und Wohlbefinden. Zu diesem Zweck entwickelt und erprobt er visuelle Forschungsmethoden, welche die Nutzung von analogen und digitalen Fotografien als empirische Datengrundlage einschließen. Als Fotograf befasst er sich mit Landschaftsästhetik und der Sensibilisierung für Natur- und Landschaftsbelange. 

Dr.-Ing. Martin Sondermann ist Geograph und Planungswissenschaftler. Er arbeitet als wissenschaftlicher Referent in der Geschäftsstelle der ARL und leitet dort das Wissenschaftliche Referat I „Gesellschaft und Kultur“. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die Erforschung lokaler Planungskulturen, Urban Gardening und demokratische Raumentwicklung. Auf seinen Entdeckungsreisen fotografiert er Street-Art, Lost Places und Orte urbaner Subkulturen.

 

Räume und Gerechtigkeit

Die gebaute Umwelt, die Architekturen der Stadt, die Gestaltung der Freiräume – alles wird von Menschen planerisch entwickelt, geschaffen und genutzt. Räume als physische Materialität stehen stets in einem Wechselspiel mit der gesellschaftlichen Praxis: durch die Produktion, Nutzung und Aneignung sind Räume mit ihren ästhetischen und baulichen Formen sowie ihren vielfältigen Funktionen immer zugleich Ausgangspunkt und Ergebnis gesellschaftlichen Handelns (Läpple 1991: 196 f.). Die Qualitäten und Bedeutungen von Räumen sind Ausdruck unterschiedlicher Gesellschafts-, Planungs- und Baukulturen und beeinflussen andererseits auch, wie wir diese Räume erleben: So gibt es grüne Stadtplätze, an denen viele gerne verweilen und düstere Orte, die manche lieber meiden. Räume, ihre Nutzung und Gestaltung spiegeln gesellschaftliche Machtverhältnisse wider und sind somit auch direkt mit Fragen von (Un-)Gerechtigkeit verbunden. 

Aus kulturgeografischer Perspektive sind Räume weit mehr als objektiv gegebene oder rein physische Realitäten. Sie werden über Sprache und Alltagspraktiken produziert und sind mit Regeln, Konventionen sowie Traditionen verbunden, die Teilhabe und Zugang, Nutzung und Ausschluss regeln. Wie verhält man sich in einem Park, wie an einem Bahnhofsvorplatz? Wie lebt es sich in einem Einfamilienhaus in einer Kleinstadt und wie in einer Großwohnsiedlung? Wie privat und wie öffentlich sind Räume? Wer kann welche Räume auf welche Weise nutzen – und wer nicht? Räume werden immer aus verschiedenen – kulturellen – Perspektiven wahrgenommen, bewertet und auch produziert (Lossau 2009: 31 ff.). Räumliche Manifestationen von (Un-)Gerechtigkeit sind somit auch Artefakte kulturellen Handelns. Dies lässt sich gut an der Frage gleichwertiger Lebensbedingungen illustrieren: Über die schiere Verfügbarkeit sozialer Infrastrukturen hinaus, leben Menschen in Wohnsiedlungen sehr verschiedener baulicher Qualitäten, sind in unterschiedlichem Maße Lärm ausgesetzt und haben mal mehr und mal weniger Zugang zu gepflegtem Stadtgrün, um nur einige Beispiele zu nennen. Die subjektive (Un-)Zufriedenheit der Menschen mit „ihren“ Räumen ist dabei ein weiterer wichtiger Bewertungsmaßstab, denn Gerechtigkeit lässt sich nicht objektivieren.

Was bedeuten Gemeinwohl und Gerechtigkeit im Raum, in der Planung, im Alltag? Diesen Fragen sind diejenigen nachgegangen, die sich an unserem Fotowettbewerb beteiligt haben. Die eingereichten Fotos lassen ganz persönliche Interpretationen und Blicke auf räumliche (Un-)Gerechtigkeit bildhaft werden. Dabei wurden bewusst alle Facetten zugelassen – vom Zugang zu öffentlichen Räumen, sozialer Gerechtigkeit und Teilhabe, Umweltgerechtigkeit bis hin zu planerischen Entscheidungen und baulichen Manifestationen. Mit Fotografien lassen sich Zustände und Momente von räumlichen (Un-)Gerechtigkeiten festhalten. Mal erschließt sich die Thematik unmittelbar, mal erst durch ein Hineindenken in das Bild: Zeigt ein Bild zum Beispiel wohnungslose Menschen, die vor einem Schaufenster schlafen, in dem ein Schlafzimmer ausgestellt ist (Abb. 1), dann wird Ungerechtigkeit deutlich sicht- und greifbar.
 

Abb. 1: Wo würden Sie lieber schlafen?Abb. 2: Frankfurt am Main - Stadt für alle?
Ausgewählter BeitragBesondere Anerkennung der Jury
Foto: Viktoria KamufFoto: Tabea Latocha

Beim Betrachten von Brachflächen in der Stadt erschließt sich die Thematik eventuell erst auf den zweiten Blick: Es könnte um bauliche Ungleichheiten gehen, die immer auch sozioökonomische Ungleichheiten widerspiegeln oder um Gentrifizierung, um Spekulationen oder Fehlplanungen – es bleibt Raum für eigene Interpretationen und Deutungen. Der Schriftzug „Stadt für alle“ (Abb. 2) verweist auf politische Bewegungen und thematisiert Proteste und gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen um (Un-)Gerechtigkeit. Andere aber nehmen gegebenenfalls die düstere Atmosphäre des Bildes wahr oder die Bewegung, die sich ergibt, wenn man in einem Zug sitzend die Stadt an sich vorbeiziehen lässt. Oder ist es das Kraftwerk im Hintergrund, das die Aufmerksamkeit der betrachtenden Person auf sich zieht und ein Nachdenken über Luftverschmutzung und Umweltgerechtigkeit auslöst? Im Prozess des Wahrnehmens und Deutens kommen wiederum eigene Erfahrungen, Sozialisierungen, kulturelle Prägungen und natürlich auch fachliche Expertisen zum Tragen.

Fotografien werden aber nicht nur unterschiedlich gedeutet, sie haben auch unterschiedliche Entstehungsgeschichten. Sie können ganz beiläufig und spontan mit einer Handykamera aufgenommen werden, ein bestimmtes Motiv oder eine besonders eindrucksvolle Stimmung einfangen, oder ganz bewusst aufgenommen oder inszeniert worden sein. Wurde ein Ort mehrfach besucht, eine Szene aus verschiedenen Perspektiven eingefangen, bewusst die Schärfe gesetzt, auf die Lichtführung und die Komposition der Bildelemente geachtet? Interessant ist dabei nicht nur, wie etwas abgebildet wird, sondern auch, warum und welche Imagination damit erzeugt wird.

Bilder werden nicht nur fotografisch produziert, sondern auch mental reproduziert. Sie entwickeln damit eine gesellschaftliche und politische Wirksamkeit. Und so entstehen Orte, an denen man eventuell noch nie selbst war, als klar definierte Bilder vor dem inneren Auge: von Traumstränden, historischen Altstädten, bunten Märkten oder romantischen Gärten – oder auch überfüllten Zügen, Slums, tristen Wohnblöcken und verfallenen Gebäuden. Ohne diese Bilder genauer geografisch zu verorten, haben Sie dies beim Lesen eventuell selbst getan. Dies zeigt, wie wichtig Bilder sind und zugleich wie wichtig ein differenzierter Umgang mit ihnen ist: Was zeigen die Bilder, was zeigen sie nicht – und warum? Reproduzieren sie stereotype Vorstellungen oder brechen sie mit diesen? Eine spannende Zukunftsaufgabe für Menschen, die raumbezogen denken, forschen und arbeiten, ist die Entdeckung neuer Seiten: die schönen Seiten von Orten in Städten, die üblicherweise als hässlich gelten oder als Negativbeispiele herangezogen werden, wahrzunehmen – oder auch mal die Schattenseiten von „Best Practice“-Projekten zu erkunden. Räume sind nie gegeben, sondern werden immer gemacht – an den Bildern von diesen Räumen und ihren Deutungen können wir alle mitwirken.

Der Fotowettbewerb – Auswahl und Prämierung 

Auf den offenen Call zu unserem Fotowettbewerb erhielten wir an die 50 Einreichungen. Die ARL dankt allen Teilnehmenden für ihre Einreichungen, wir waren sehr positiv überrascht von der Vielzahl und inhaltlichen sowie technisch-künstlerischen Bandbreite der Fotografien. Entsprechend schwer fiel die Auswahl! Von den eingereichten Fotografien wählte das Organisationsteam der ARL-Geschäftsstelle in einem ersten Schritt 24 Fotografien aus, die aus unserer Sicht das Thema der räumlichen (Un-)Gerechtigkeit besonders eindrücklich aufgegriffen haben. Das interne Team bestand aus Tanja Ernst (Wissenschaftskommunikation), Gabriela Rojahn (Grafik) sowie Vanessa Mena Arias und Martin Sondermann (beide Wissenschaftliches Referat I „Gesellschaft und Kultur“).

>> Link zur Bildergalerie: Beiträge des Fotowettbewerbs


© ARL

Diese Vorauswahl wurde in einem zweiten Schritt von einer eingeladenen Jury in drei Kategorien bewertet: thematischer Bezug der Fotografien zu räumlicher (Un-)Gerechtigkeit, fotografische Qualität und Komposition mit Blick auf Perspektive, Belichtung, Schärfe und den ästhetischen Gesamteindruck sowie die künstlerisch-dokumentarische Umsetzung und Aussagekraft der Bilder in Bezug auf die Bildunterschrift sowie ihre inhaltliche Aussage.

Auch im Namen der Jury-Mitglieder, der wir für ihre Bereitschaft und ihr Engagement danken möchten, gratulieren wir den Preisträgerinnen und Preisträgern ganz herzlich und wünschen allen Interessierten viel Spaß beim Betrachten und Deuten der Bilder.

Selbstverständlich bleibt es allen Betrachtenden überlassen, ob sie die Auswahl und Prämierung nachvollziehen können und diese als „gerecht“ oder „ungerecht“ empfinden. Sie finden eine Auswahl der Einreichungen auf unserer Webseite.

Das Fotobuch steht jetzt in unserem Online-Shop zum kostenfreien Download bereit:


 

Literatur

Läpple, D. (1991): Essay Über den Raum. Für ein gesellschaftswissenschaftliches Raumkonzept. In: Häußermann, H.; Ibsen, D.; Krämer-Badoni, T.; Läpple, D.; Rodenstein, M.; Siebel, W. (Hrsg.): Stadt und Raum: soziologische Analysen. Pfaffenweiler, 157-207.

Lossau, J. (2009): Räume von Bedeutung. Spatial turn, cultural turn und Kulturgeographie. In: Csáky, M.; Leitgeb, C. (Hrsg.): Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem „Spatial turn“. Bielefeld, 29-43. 
 

Kontakt

Dr.-Ing. Martin Sondermann
Leiter des Wissenschaftlichen Referats "Gesellschaft und Kultur"
Tel. +49 511 34842-23
sondermann@arl-net.de