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Bericht: Workshop des Forums Planungsrecht der ARL am 27.11.2018

Abweichungsgesetzgebung im Raumordnungsrecht und im raumbedeutsamen Umweltrecht

Hintergrund

Der ARL-Arbeitskreis „Forum Planungsrecht“ hat sich die Durchdringung und Fortentwicklung des Raumplanungsrechts zum Ziel gesetzt. Im Jahrestakt organisiert er Workshops zu aktuellen wie grundsätzlichen Fragestellungen, um Wissenschaft und Praxis miteinander ins Gespräch zu bringen. Die diesjährige Veranstaltung fand unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. Wilfried Erbguth (Universität Rostock) in Zusammenarbeit mit dem Bundesinnenministerium (BMI) am 27.11.2018 in Berlin statt und war der Abweichungsgesetzgebung auf den Gebieten des Raumordnungsrechts und des raumrelevanten Umweltrechts gewidmet. Im Zuge der Föderalismusreform I wurde im Jahre 2006 die grundgesetzliche Verteilung der Gesetzgebungsbefugnisse zwischen Bund und Ländern unter anderem für das Recht der Raumordnung, des Naturschutzes und der Landschaftspflege sowie des Wasserhaushalts neu geordnet: Diese Materien wurden aus der bisherigen Rahmengesetzgebung (Art. 75 GG a.F.) in die konkurrierende Gesetzgebungsbefugnis des Bundes überführt (Art. 74 Abs. 1 Nr. 29, 31, 32 GG), den Ländern aber zugleich das Recht zur Abweichungsgesetzgebung eingeräumt (Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, 4, 5 GG). Die Länder können demnach das Bundesrecht auf der Grundlage des Art. 72 Abs. 1 GG ergänzen, soweit dieses keine abschließende Regelung trifft, auf der Grundlage ihrer Abweichungsbefugnisse aber gerade auch die Entscheidungen des Bundesgesetzgebers für ihr Landesgebiet außer Kraft setzen. Nachdem der Bund mit dem Raumordnungsgesetz (ROG) 2008, dem Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) 2009 sowie dem Wasserhaushaltsgesetz (WHG) 2009 von seinen neuen Gesetzgebungsbefugnissen Gebrauch gemacht hat, sind auch die Länder auf den Gebieten des Landesplanungsrechts, des Naturschutz- und Wasserrechts gesetzgeberisch tätig geworden; zwischenzeitlich ist aber auch das Bundesrecht – beispielsweise durch das ROG 2017 – erneut geändert worden. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen erscheint eine Zwischenbilanz zur Abweichungsgesetzgebung angezeigt, um bewerten zu können, inwieweit und mit welchen Folgen sich dieser neue und kontrovers diskutierte Kompetenztypus in für die Raumplanung wichtigen Rechtsbereichen niedergeschlagen hat.

Verfassungsrechtliche Grundlagen der Abweichungsgesetzgebung

Nach einführenden Beiträgen von Prof. Dr. János Brenner (BMI) und Prof. Dr. Susan Grotefels, Vizepräsidentin der ARL, bereitete Erbguth die vielfältigen verfassungsrechtlichen Fragen der Abweichungsgesetzgebung auf und schuf hiermit die Grundlage für die nachfolgende Betrachtung der einzelnen Rechtsmaterien. Er betonte, die Föderalismusreform I sei nicht etwa allgemein „länderfreundlich“ gewesen; die Etablierung der Abweichungsgesetzgebung habe deshalb den Ländern nicht Gestaltungsbefugnisse allgemeiner Art, sondern lediglich die Möglichkeit zur Berücksichtigung spezifisch regionaler Bedürfnisse, Strukturen und Konzepte eröffnen sollen. Vor diesem Hintergrund könnten allgemeine gesetzgeberische Gestaltungsanliegen, etwa das Ziel einer Deregulierung, oder eine reine „Negativgesetzgebung“, die sich in der „Abwehr“ des Bundesrechts erschöpfe, ohne ein eigenes, regionsspezifisches Gestaltungsziel zu verfolgen, eine Inanspruchnahme der Abweichungskompetenz nicht rechtfertigen. Dieses Anliegen der Abweichungsgesetzgebung stehe auch einer einseitig unitarischen oder föderalen Sichtweise, einer jeweils engen oder weiten Auslegung der Gesetzgebungsbefugnisse des Bundes oder der Abweichungsbefugnisse der Länder, entgegen. Erbguth hob zudem hervor, dass eine bloße Wiederholung bzw. eine wort- oder sinngleiche Übernahme des Bundesrechts auf landesgesetzlicher Ebene sich weder auf die Befugnis zur ergänzenden noch auf die zur abweichenden Landesgesetzgebung stützen könne; sie sei im Interesse einer Vereinfachung der Rechtsanwendung nur dort statthaft, wo der Gesetzgeber ihr keine konstitutive Wirkung beimesse.

Gesetzgebung der Länder auf dem Gebiet des Raumordnungsrechts

Bei der anschließenden Betrachtung einzelner Materien der Abweichungsgesetzgebung stand das Raumordnungsrecht im Vordergrund. Rechtsanwalt Dr. Holger Schmitz, Berlin, zog eine vorläufige Bilanz zur Landesgesetzgebung der letzten Jahre. Anhand von Beispielen u.a. zur Beteiligung der öffentlichen Stellen und der Öffentlichkeit veranschaulichte er, dass die Abgrenzung von i.S.d. Art. 72 Abs. 1 GG ergänzendem, das Bundesrecht wiederholendem und i.S.d. Art. 72 Abs. 3 GG abweichendem Landesrecht gerade bei geringer Regelungsdichte des Bundesraumordnungsrechts außerordentlich schwierig sein kann. In den Landesplanungsgesetzen unterschied Schmitz drei verschiedene Regelungsansätze: Neben der lediglich vereinzelten Praxis eines Verzichts auf eine systematische Anpassung an das ROG des Bundes (Mecklenburg-Vorpommern) und einer Substitution des Bundesrechts unter Inanspruchnahme der Abweichungskompetenz (Bayern) befinde sich ein „reduktiv-ergänzender“ Regelungsansatz im Vordringen, der eine Wiederholung des Bundesrechts so weit wie möglich vermeide und somit der Kompetenzordnung des Grundgesetzes am ehesten entspreche. Insgesamt konstatierte Schmitz sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht eine eher untergeordnete Bedeutung der Abweichungsgesetzgebung im Raumordnungsrecht, was nicht zuletzt auf den eher zurückhaltenden Regelungsansatz des ROG zurückzuführen sei, das in mancherlei Hinsicht noch in der Tradition des früheren Rahmenrechts stehe.

Auswirkungen des ROG 2017 auf die Abweichungsgesetzgebung der Länder

In den der Abweichungsbefugnis unterfallenden Rechtsmaterien genießt im Verhältnis von Bundes- und Landesrecht gem. Art. 72 Abs. 3 Satz 3 GG das jeweils spätere Gesetz Anwendungsvorrang. Das danach denkbare Hin und Her von Bundes- und Landesrecht hat der Abweichungsgesetzgebung alsbald den Spottnamen „Ping-Pong-Gesetzgebung“ eingetragen. Welche Schwierigkeiten sich hieraus im Falle späterer Änderungen des Bundes- und Landesrechts für die Rechtsanwendung ergeben können, veranschaulichte für das Raumordnungsrecht Ministerialdirektor a.D. Dr. Peter Runkel. Er hob hervor, dass Änderungen im ROG des Bundes und in den Landesplanungsgesetzen die jeweiligen Gesetze nicht zur Gänze zu einem späteren i.S.d. Art. 72 Abs. 3 Satz 3 GG machten, sondern dies allein auf die jeweiligen Änderungsvorschriften zutreffe. Vor diesem Hintergrund könne das Arbeiten allein mit einer bereinigten Fassung des ROG bzw. des Landesplanungsgesetzes nicht genügen; vielmehr könne nur durch eine genaue Zurückverfolgung der jeweiligen Änderungen auf bundes- und landesrechtlicher Ebene zuverlässig die in konkreten Fall anwendbare Regelung ermittelt werden. Würden lediglich einzelne Worte, Absätze etc. geändert, bspw. die Einfügung des Hinweises auf eine Zielbindung „nach § 4“ in § 6 Abs. 2 Satz 2 ROG 2017, so seien auch nur diese Änderungen als späteres (und vorrangiges) Gesetz anzusehen. Dagegen mache eine bloße „Umsortierung“ (Neunummerierung) von Vorschriften diese noch nicht zu späteren Gesetzen i.S.d. Art. 72 Abs. 3 Satz 3 GG.

Abweichungsgesetzgebung aus Landessicht: das Bayerische Landesplanungsgesetz

Das Bayerische Landesplanungsgesetz nimmt die Abweichungsbefugnis nach Art. 72 Abs. 3 Satz 1 GG intensiv in Anspruch und nimmt insoweit unter den Landesplanungsgesetzen eine Sonderstellung ein. Diesen Regelungsansatz erläuterte und bewertete Rechtsanwalt Ulrich Numberger, München: Nachdem das ROG 2008 weite Teile des früheren BayLPlG habe obsolet werden lassen, habe der Landesgesetzgeber mit dem LPlG 2012 ein einheitliches und gut verständliches Landesplanungsgesetz schaffen wollen, welches das ROG des Bundes im Interesse der Anwendungsfreundlichkeit vollständig ersetzen sollte und dabei zahlreiche – auch von Bayern mitgetragene – ROG-Vorschriften übernommen habe. Diesen Regelungsansatz erachtete Numberger als bundesverfassungskonform, wies jedoch darauf hin, dass die Auswirkungen des ROG 2017 auf das BayLPlG derzeit noch offen seien. Der Landesgesetzgeber habe noch nicht auf das neue Bundesrecht reagiert und die Sachsmonatsfrist des Art. 72 Abs. 3 Satz 2 GG „verschlafen“. Die Frage nach dem anwendbaren Recht sei nicht geklärt und in der Praxis vielfach höchst problematsich, zumal sich das bayerische Landesplanungsrecht vom Bundesrecht in wichtigen Punkten unterscheide, beispielsweise hinsichtlich der Verpflichtung zur Durchführung eines Raumordnungsverfahrens. Diese Verwerfungen belegten, dass die Abweichungsgesetzgebung im Bereich des Raumordnungsrechts keine sinnvolle Umsetzung erfahren habe.

Abweichungsgesetzgebung im Naturschutz- und Wasserhaushaltsrecht

Unter den umweltrechtlichen Materien, für die den Ländern eine Befugnis zur Abweichungsgesetzgebung eingeräumt worden ist, kommt dem Naturschutzrecht und dem Wasserhaushaltsrecht besondere Bedeutung für die räumliche Planung zu. Die einschlägigen Kompetenztitel in Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 5 GG weisen gegenüber demjenigen für das Raumordnungsrecht (Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 GG) die Besonderheit auf, dass sie die Abweichungsbefugnis der Länder durch sog. abweichungsfeste Kerne begrenzen (vgl. etwa Art. 72 Abs. 1 Nr. 5 GG: „ohne stoff- oder anlagenbezogene Regelungen“). Die Analyse dieser Regelungsbereiche vervollständigt somit zugleich die verfassungsrechtliche Betrachtung der Abweichungsgesetzgebung. Zur Abweichungsgesetzgebung auf dem Gebiet des Naturschutzrechts referierte Justiziar Dr. Alexander Petschulat, Düsseldorf; das Wasserhaushaltsrecht beleuchtete Ministerialrat Wolf-Dieter Dallhammer, Dresden. Die Analyse der beiden Referenten fiel unterschiedlich aus: Während Petschulat beobachtete, dass die Länder von ihrer Abweichungsbefugnis ausgesprochen intensiven Gebrauch machen, konstatierte Dallhammer für den Bereich des Wasserhaushaltsrechts lediglich punktuelle landesgesetzliche Abweichungen, was er auf die auf die geringe Regelungsdichte des Bundesrechts und die Offenheit des WHG für ergänzendes Landesrecht i.S.d. Art. 72 Abs. 1 GG sowie auf die Reichweite der EU-rechtlichen Vorgaben zurückführte.

Fazit und Ausblick

Die Analyse der verschiedenen Rechtsmaterien verdeutlichte zunächst die unterschiedliche praktische Bedeutung der Abweichungsgesetzgebung im Raumordnungs- und Wasserrecht einerseits sowie im Naturschutzrecht andererseits. Rechtsmaterienübergreifend zeigte die Veranstaltung jedoch, dass die Abweichungsgesetzgebung nach wie vor zahlreiche ungeklärte verfassungsrechtliche Fragen aufwirft, deren Folgen für die Rechtsanwendung von der präzisen Untersuchung des jeweiligen Bundes- und Landesrechts abhängen und somit stets auf die einfach-gesetzliche Ebene „durchschlagen“. Nicht zuletzt die erheblichen Rechtsunsicherheiten durch die „Überschichtung“ von Bundes- und Landesrecht waren auch der Grund für die Skepsis gegenüber dem Kompetenztypus der Abweichungsgesetzgebung im Allgemeinen, welche in den von Prof. Dr. Sabine Schlacke, Universität Münster, und Prof. Dr. Dr. Wolfgang Durner, LL. M., Universität Bonn, moderierten Aussprachen mehrfach geäußert wurde. Die Schriftfassungen der Referate werden, wie in den vergangenen Jahren, in einem Themenheft der „Zeitschrift für Umweltrecht (ZUR)“ dokumentiert.

Dr. Boas Kümper
Zentralinstitut für Raumplanung an der Universität Münster
Tel. +49 251 83-29787
bkuem_01@uni-muenster.de

Präsentationen des Workshops (PDF):

Als Zwischenergebnisse längerfristiger Beratungen des Arbeitskreises „Forum Planungsrecht“ wurden außerdem publiziert: Forum Planungsrecht, Vereinheitlichung und Fortentwicklung des räumlichen Planungsrechts: Thesen, EurUP 2017, 308 ff.; dies., Fortentwicklung des Raumplanungsrechts: Aufgaben, Koordination, Effektivität, ZUR 2018, 346 ff.