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Interview mit Heike Brückner und Dr. Babette Scurrell von der Stiftung Bauhaus Dessau

Frau Dr. Scurrell, Frau Brückner, Sie haben am Beispiel von Dessau gezeigt, wie eine Stadt mit Schrumpfung, Abriss und Klimawandel positiv umgehen kann. Herausgekommen ist eine StadtLandschaft, die viel Freiraum lässt für Kreativität und Austausch. Wie hat es die Stadtverwaltung geschafft, den Anwohnern die Abrissmaßnahmen nicht nur als etwas Positives zu verkaufen, sondern sie auch zum Mitmachen zu motivieren?

Heike BrücknerBrückner: Wir haben den Stadtumbau im Rahmen des Programms "Stadtumbau Ost" begonnen. Während die Wohnungsunternehmen sich am Beginn des Prozesses nur auf den Abriss von Wohnungen kapriziert haben, haben wir Stadtentwicklung unter Schrumpfungsbedingungen weiter gefasst. Wir haben versucht, die Stadt neu zu "konfigurieren", indem wir mit anderen Akteuren in einer Planungswerkstatt zusammengearbeitet haben. Wir sind auf Vereine und Initiativen zugegangen und haben sie gefragt: Was für einen Gewinn für die Stadt könnt ihr aus dieser Umbruchsituation, den neuen StadtLandschaften und den entstehenden Brachen ziehen? Könnt ihr euch vorstellen, in dieser neuen StadtLandschaft tätig zu werden, indem ihr zum Beispiel Ideen beisteuert, Flächen kauft oder sie zwischennutzt? Wollt und könnt ihr selbst Ressourcen bereitstellen und etwas realisieren oder möchtet ihr Projektpate werden? Um diesen Prozess in Gang zu setzen, haben wir uns zwei Monate lang einmal die Woche in einer lokalen Agenda-Initiative getroffen. Wir haben 80 Gespräche geführt und 20 Ideen entwickelt, von denen zehn direkt umgesetzt werden konnten.

Scurrell: Der ganze Prozess muss vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass die Bevölkerung in den dramatisch schrumpfenden Städten auf die nötigen Veränderungen vorbereitet ist. Unter den Einwohnern gibt es bereits ein breites Bewusstsein für die Probleme der verzerrten Altersstruktur und Abwanderung. Die Beteiligungsangebote der Stadt – beispielsweise Stadtumbaunächte oder eine Abschiedsveranstaltung für die alte Molkerei – sind deswegen auf fruchtbaren Boden gefallen.

Zahlreiche Studien belegen die sozialen Voraussetzungen von freiwilligem Engagement. Babette ScurrellEs engagiert sich meistens die besser gebildete Mittelschicht. War das bei Ihrem Claim-Projekt anders?

Brückner: Nein. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass maximal 10% der Bürger für derartige Projekte zu gewinnen sind. Wenn diese Bürger ihr soziales Umfeld und ihr Netzwerk mit einbringen, ergibt sich daraus im besten Fall eine Bürgerbeteiligung von 20%, die anderen 80% sind nur sehr schwer zu mobilisieren. Wir haben deswegen gezielt mit Vereinen und anderen Organisationsstrukturen zusammengearbeitet, in denen Bürger bereits in irgendeiner Form engagiert sind.

Scurrell: Zu ergänzen wäre hier, dass es über die Ansprache der Vereine gelungen ist, auch eher partizipationsferne Adressaten mitzunehmen. Der Frauenverein weiß, welche Frauen im Quartier anzusprechen sind. Der Stadtrat weiß, mit welchen Streetworkern er gezielt Jugendliche einbeziehen kann. Wichtig ist, dass wir nicht aufgeben, verschiedenste Personenkreise und soziale Milieus zu erreichen.

Wie findet der Austausch über die Claim-Grenzen hinweg statt? Sehen Sie Parallelen zu Schrebergärten, oder entsteht hier eine ganz andere Form des sozialen Miteinanders?

Brückner: Das ist eine ganz andere Form. Schrebergärten kommen aus einem anderen Kontext. Sie sind Kompensationsmaßnahmen für Menschen in hoch industrialisierter Erwerbsarbeit und eine sehr private Angelegenheit. Claim-Projekte oder auch Urban Gardening-Projekte haben dagegen das Ziel, Öffentlichkeit herzustellen. Unsere Projekt sehen wir eher als Bühne für neue Stadtaktivitäten, die wesentlich mehr wollen, als nur Gemüse anzubauen bzw. Obstbäume oder Blumen zu pflanzen. Die Träger dieser Projekte wollen eine andere Form von Gemeinschaft in der Stadt.

Scurrell: Die Claims sind ein Anlass, öffentlich zusammenzutreffen. Die Entdichtung der räumlichen Nutzung darf nicht einhergehen mit einer Entdichtung der sozialen Beziehungen. Wir wollen mit den Claims Orte der Begegnung schaffen.

Die entstandene StadtLandschaft ist ein typisches Szenario für eine von Schrumpfung betroffene Stadt. Was für Entwicklungsszenarien sehen Sie für StadtLandschaften in florierenden Großstädten wie München oder Frankfurt, und welche für den ländlichen Raum?

Scurrell: Viel Raum und eine Umbruchsituation machen es leichter, Ideen und Experimente umzusetzen. Aber auch in Metropolen gibt es Urban-Gardening-Projekte, FabLabs und einen Anspruch des Prosumings1. Die Beteiligten wollen keine vorgefertigten Produkte mehr, sondern sie wollen verstehen, wie Dinge hergestellt werden, sie wollen selbst produzieren. Hier setzen die seit vielen Jahren etablierten Eigenarbeitswerkstätten in großen und wachsenden Städten an. Im ländlichen Raum sieht man bürgerschaftliches Engagement etwa an der Energiebewegung, den Wassergenossenschaften und den Gemeindekraftwerken. Ich glaube, dass es überall einen Drang gibt, selbst zu gestalten. Nur die Form ist anders, weil auch die Räume unterschiedliche Voraussetzungen bieten.

Brückner: Ich sehe die Projekte auch in der Funktion eines Trittsteins. Hiermit meine ich, dass auch in sehr determinierten Stadtentwicklungen Elemente des Anderen implementiert werden können. Diese neuen, integrierten Nutzungsformen verweisen in einem kleinen und überschaubaren Maßstab auf die Zukunft.

Um nochmal auf das Claim-Projekt zurückzukommen: Wie ändert sich das Aufgabengebiet der Stadtplanung?

Brückner: Stadtplanung plant nicht mehr so viel, sondern ermöglicht. Stadtplanung stellt Strukturen, Anlässe und Räume zur Verfügung. Wir sehen Planung eher als einen künstlerischen Prozess, in dem Gestaltungsräume entstehen und Gestaltungskräfte sich entfalten können. Das Ergebnis ist dabei ungewiss. Die Rolle des Planers ist es, die Planungsprozesse zu moderieren und inhaltliche, ästhetische und ökonomische Impulse hineinzugeben.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Gabriele Schmidt im Rahmen des ARL-Kongresses 2013.

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1 Der englische Begriff prosuming setzt sich zusammen aus den Begriffen production (Produktion) und to consume (konsumieren). Es gibt verschiedene wissenschaftliche Definitionen des Begriffs. Hier wird darunter die gemeinsame Produktion und Konsumtion eines Gutes, z. B. von Obst und Gemüse, verstanden.