Gesellschaftlicher Zusammenhalt im Raum
Die Herbsttagung des ARL-Forums Südost am 24. Oktober 2024 in Weimar diskutierte die zunehmende Erosion gesellschaftlichen Zusammenhalts und Möglichkeiten einer Stärkung aus räumlicher Perspektive
Das ARL-Forum Südost organisiert zweimal jährlich eine öffentliche Fachtagung zu einem aktuell relevanten Thema, das aus der Praxis der Raumplanung und Raumentwicklung sowie der Wissenschaft beleuchtet wird. Aufgrund der zunehmend spannungsgeladen geführten öffentlichen Debatten zu Politik und räumlicher Gerechtigkeit stand bei dieser Herbsttagung der gesellschaftliche Zusammenhalt im Raum im Zentrum.
In seinem Grußwort gab der Präsident des Thüringer Landesverwaltungsamtes Frank Roßner persönliche Einblicke in das, was in vielen politischen Gegenwartsanalysen als Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts und zunehmende Polarisierung beschrieben wird. Er schilderte seine Wahrnehmung eines „giftigen Cocktails“ aus immer häufiger vertretenen Extrempositionen ohne Faktenbezug und verständlichen Ängsten, der öffentliche Debatten, aber auch die Auseinandersetzungen im privaten Umfeld präge, so dass sich die Menschen immer weiter entsolidarisieren und aushandlungsbasierte Entscheidungsfindung oder -begründung stark erschwert werde.
Welche Bedeutung hat der Raum in diesem Zusammenhang, und welche Rolle und Verantwortung kommt der räumlichen Planung zu? Diese wichtigen und zugleich komplexen Fragen griff die Veranstaltung mit drei Fachvorträgen auf, die Zusammenhänge aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchteten.
Den Einstieg machte Prof. Dr. Katrin Großmann (Fachhochschule Erfurt) zur Fragestellung „Peripherisierung, gesellschaftliche Polarisierung und Emotionen: Wie sind wir da nur gelandet und wie kommen wir wieder raus?“ Sie zeichnete nach, wie die Abkopplung von Gemeinden von gesellschaftlicher Entwicklung, die mit Verlusten der wirtschaftlichen Bedeutung und/oder von Infrastrukturen in peripheren Lagen einhergehen, zu subjektiven Erfahrungen der Zurücksetzung führen oder diese verstärken können. Bleiben dann für die Betroffenen weitere Formen von Anerkennung und Respekt langjährig aus, kann dies den Boden bereiten für populistische und extremistische politische Angebote. Katrin Großmann wies darauf hin, dass es einen Unterschied in der subjektiven und objektiven Problemdiagnose gibt: Über- oder unterdurchschnittliche Lebensverhältnisse lassen sich zwar mittels Strukturdaten und sozioökonomischen Indikatoren analysieren und messen, doch Verletzungen der Würde sind nur subjektiv erfassbar, wiegen aber vielfach schwerer als materielle Belastungen. Sie untersucht daher, wie Würde zu einem Leitbild der Raumordnung werden könnte, um die Rahmenbedingungen für Selbstachtung und Selbstbestimmung aktiv zu fördern.
Herausforderungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt bestehen aber nicht nur im Hinblick auf periphere und benachteiligte oder sogar als abgehängt wahrgenommene Regionen, sondern auch auf der städtischen Quartiersebene. Mit ihrer Analyse zu „Perspektiven ostdeutscher Großwohnsiedlungen – von Stadtumbau- zu Einwanderungsquartieren“ verdeutlichte Dr. Stefanie Rößler (IÖR – Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung) den besonderen Handlungsbedarf für die städtebauliche Weiterentwicklung solcher Wohnquartiere. Während vor zwanzig Jahren eine Aufwertung durch Rückbau angestrebt wurde, hat sich die Dynamik seit 2015 durch internationale Zuwanderung stark verändert. Es besteht eine anhaltend hohe Nachfrage nach Wohnraum und einer wohnortnahen Infrastruktur. Für beides bieten Großwohnsiedlungen zwar oft zahlreiche Angebote, allerdings fehlt es in qualitativer Hinsicht häufig an räumlicher Vielfalt und kleinteiligen Angeboten. Das verhindere die soziale Teilhabe der dort Wohnenden und biete kaum Möglichkeiten für neu Hinzugekommene, mit Alteingesessenen zusammenzukommen. Die häufig zwar üppig vorhandenen Freiflächen verfügen zudem selten über eine Gestaltung, die zur Begegnung einlädt und auch so genutzt wird. Auch fördern anonyme Parkplatzflächen und großflächiger Einzelhandel nicht die Raumaneignung durch die dort Lebenden.
Welche Ansatzpunkte es darüber hinaus gibt, um gesellschaftlichen Zusammenhalt durch administratives Handeln zu fördern, erläuterte Prof. Dr. Jörg Fischer (Fachhochschule Erfurt) in seinem Vortrag „Die Organisation gesellschaftlichen Zusammenhalts im Raum – Möglichkeiten und Begrenzungen“. Dabei warnte er vor einer zu ausgeprägten Defizitperspektive. Die Potenziale der Menschen und vorhandenes Engagement müssen von der öffentlichen Hand besser adressiert und eingebunden werden, was aber nicht durch das Top-Down-Beplanen von Räumen ohne Berücksichtigung der Akteursperspektiven gelingt. Diese Perspektiven werden aber von administrativer Seite oft vernachlässigt, da gesellschaftlicher Zusammenhalt häufig gar nicht als Ziel definiert ist. Dabei ist es enorm wichtig, soziale Herausforderungen wie Deprivilegierungen oder Teilhabehürden klar zu benennen, um sie bearbeiten zu können und die Unzufriedenen und Benachteiligten nicht den extremistischen Politikangeboten zu überlassen. Der Umgang mit polarisierten Debatten und konfliktiven Emotionen ist für Verwaltungsmitarbeitende aber herausfordernd, weil sie keine gute Unterstützung bei der Moderation und Bewältigung von Konfliktsituationen haben. Jörg Fischer empfiehlt bspw. nicht direkt auf die negativen Emotionen zu reagieren und auf von rechts instrumentalisierte Triggerpunkte einzugehen, sondern positive Argumente und gute öffentliche Leistungen selbstbewusst zu vertreten. Dazu gehört eine transparente Kommunikation, die klare Zielvorgabe und -verfolgung in Politik und Planung, aber eben auch die Förderung weicher Faktoren, die dem sozialen Miteinander und der Möglichkeit von Begegnung und Interaktion dienen.
Am Nachmittag wurde das im Juli 2024 erschienene Positionspapier aus der ARL „Gleichwertige Lebensverhältnisse implementieren. Empfehlungen für die Raumordnung der drei mitteldeutschen Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen“ vorgestellt. Damit rückten die Perspektive und Handlungsmaxime der Raumordnung stärker in den Fokus der fachlichen Diskussionen. Prof. Dr. Gerold Janssen (IÖR – Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung) stellte dar, welche Empfehlungen die Arbeitsgruppe u. a. aus drei ARL-Workshops mit Verantwortlichen aus der lokalen und regionalen Praxis in den drei Ländern abgeleitet hat, um die Erreichung gleichwertiger Lebensverhältnisse auf der Ebene der Regional- und Landesplanung aktiv zu stärken. Ein wichtiger Punkt ist die Forderung, die Mindeststandards der Daseinsvorsorge klarer zu definieren und die Rolle von Mittelzentren als zentrale Anker für die Daseinsvorsorge gerade in peripher gelegenen Räumen gezielt aufzuwerten. Gerold Janssen kam dabei auch nochmal auf die Bedeutung individueller Wahrnehmungen zu sprechen. Große Studien wie der Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung von 2024 zeigen, dass in vielen Bereichen eine Annäherung der objektiven Lebensverhältnisse im positiven Sinne feststellbar sei, was aber nicht bedeute, dass die Zufriedenheit der Bevölkerung gleichermaßen ansteige. So trüben deutliche regionale Unterschiede bei den Lebensbedingungen und den Zukunftserwartungen die Bilanz. Diese Unterschiede lassen sich, u. a. durch den bereits erfolgten und weiterhin zu erwartenden Bevölkerungsrückgang in strukturschwächeren Räumen erklären.
In der sich anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass die Raumordnung und ihr spezifischer Handlungsauftrag zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse nicht alle Aspekte, die in den Vorträgen adressiert wurden, hinreichend in den Blick nimmt. Allerdings muss hier differenziert werden zwischen Handlungsmöglichkeiten, die im Feld der räumlichen Planung liegen, und denen, die vornehmlich durch politische Akteure gestaltet werden. Stringenz in der Verfolgung einer programmatischen Agenda sowie ihrer Kommunikation sind zunächst einmal Aufgaben politischer Entscheidungsträger/innen. Nötiges Wissen über räumliche Strukturen und Entwicklungen kann die Raumbeobachtung liefern. Die Ausgestaltung und Umsetzung planerischer Prozesse sowie die Integration verschiedener Ansprüche an Raum obliegt der Raumordnung. Transparenz und Kommunikation ist auf allen Ebenen wichtig. Kritisch diskutiert wurde, ob das bestehende räumliche Sensorium für die in den Vorträgen adressierten Aspekte ausreicht oder ob noch stärker sozialwissenschaftliche Perspektiven einfließen sollten. Bei der konkreten Ausgestaltung von Planungsprozessen braucht es auf der einen Seite mehr Flexibilität und Geschwindigkeit, auf der anderen Seite mehr partizipative Sensibilität für die unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus sowie mehr professionelle Moderation und Unterstützung in Konfliktsituationen.
Das ARL-Forum Südost wird diese Fragen im Kontext seiner Arbeit weiterverfolgen.
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