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Zurück in die Stadt

Dieter Läpple im Gespräch

Herr Professor Läpple, entgegen der in den 1990er Jahren weit verbreiteten These einer allmählichen Auflösung der kompakten Europäischen Stadt beobachten Sie seit Mitte der 1990er Jahre eine Wiederentdeckung der Stadt. Was sind die Ursachen dieser Entwicklung?

Dieter LäppleEine der wichtigsten Ursachen ist der tiefgreifende Wandel der Ökonomie, also der Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Die fordistische Massenproduktion wird durch eine innovationsgetriebene, flexible Produktion abgelöst. Diese Entwicklung betrifft nicht nur die Industrie, sondern sie zeigt sich auch in den verschiedenen Dienstleistungsbereichen. Als Folge sehen wir eine Auflösung des weitgehend standardisierten Zeitregimes: Menschen arbeiten unregelmäßiger und länger. Der Arbeitsmarkt ist insgesamt unsicherer geworden. Eine weitere, wohl die allerwichtigste Ursache für die Neubewertung der Stadt ist die stark gestiegene Frauenerwerbstätigkeit. Frauen waren noch nie so gut ausgebildet wie heute, und das Beschäftigungswachstum in den Städten beruht zu einem großen Anteil auf der Frauenerwerbstätigkeit. Damit sind zwei Grundlagen für die Suburbanisierung infrage gestellt: ein starkes, verlässliches Wirtschaftswachstum und ein Geschlechtervertrag, in dem der Mann der Haupternährer ist und die Frau allenfalls hinzuverdient, aber ansonsten hauptsächlich den Haushalt in Suburbia organisiert. Dieses Modell gibt es heute immer seltener. Die Auflösung des traditionellen Geschlechtervertrags und die neuen Arbeitsmodelle führen dazu, dass das Leben und die Work-Life-Balance in Suburbia immer schwieriger zu organisieren sind. Leute, die heute ins Berufsleben einsteigen oder eine Familie gründen, versuchen in der Stadt zu bleiben. Diese Re-Urbanisierung führt zu Konflikten und zu einem „Kampf um den Raum“ in der Stadt.

Warum werden Städte wichtiger, obwohl die Informations- und Kommunikationstechnologie Entfernungen in den Hintergrund treten lässt?

Man hat lange argumentiert, dass durch die neuen Technologien räumliche Nähe (proximity) durch Erreichbarkeit (accesibility) ersetzt wird. Wenn wir nur die Hardware-Entwicklung anschauen, stimmt das möglicherweise auch. Insbesondere bei standardisierten, kodifizierten Informationen spielt der Raum keine Rolle mehr – Börsenkurse und Preise werden quer über den Globus verbreitet. Heute wissen wir aber, dass bei der Produktion von Inhalten kontextgebundenes Wissen, so genanntes tacit knowledge, von hoher Bedeutung ist. Das Verständnis dieses Wissens setzt einen gemeinsamen kulturellen und kognitiven Kontext voraus. Räumliche Interaktionsprozesse und sogenannte Face-to-face-Kommunikation sind dafür bedeutsam. Die Produktion von Inhalten und alles, was wir unter den Begriff der Kreativökonomie fassen, sind stadtaffin. Für diesen „Content“-Bereich ist nicht mehr das Silicon Valley, der Wissenschaftspark auf der grünen Wiese, das bestimmende Leitbild, sondern die Silicon Alley, also der dichte städtische Kontext von Arbeiten und Wohnen. Die Produktion von Kultur und Wissen basiert dabei auf einem völlig neuen Arbeitsstil. Die Menschen arbeiten in Projekten, und dann rund um die Uhr, bis das Projekt fertig ist. Nach dem Projekt geht man wieder auseinander und sucht sich ein neues Team für ein neues Projekt. Um sich immer wieder zu rekombinieren, muss man vor Ort sein. Die innerstädtischen Quartiere mit ihrem vielfältigen urbanen Milieu bieten hingegen günstige Bedingungen.

Ihre Ausführungen klingen sehr nach dem Leben in München, Hamburg oder Berlin. Wird sich der Zuwachs an Bevölkerung und Beschäftigung auf ganz bestimmte Städte konzentrieren? Und wenn ja, wie wirkt sich dies auf die Städtehierarchie in Deutschland aus?

Die Hauptprofiteure dieser neuen Entwicklungen werden vor allem die Universitätsstädte und die Städte über 500.000 Einwohner sein. Im Zuwachs dieser Städte spiegeln sich zwei Trends wider: die Bedeutung des Wissens in der Wissensgesellschaft und die neuen, projektorientierten Arbeitsformen. Die gesamte Ökonomie ist volatiler geworden und stärkeren Schwankungen unterworfen. Der Arbeitsmarkt hat sich infolge dessen zu einem Lernsystem weiterentwickelt. Das heißt, dass man sich laufend weiterbilden und dort sein muss, wo Arbeitsangebote sind, wo man nach einem Projektauftrag wieder in den Arbeitsmarkt reinkommt. Die Menschen gehen deswegen dorthin, wo differenzierte Arbeitsangebote vorhanden sind. Und die Unternehmen engagieren sich da, wo sie ein differenziertes Repertoire an Arbeitskräften vorfinden. Meine These ist: Dieser von mir beschriebene kleinere Teil der Ökonomie ist eine stilprägende Branche. Was dort gemacht wird, setzt sich, wenn auch nicht so extrem, in anderen Wirtschaftsbereichen früher oder später durch. Beispiel Projektorganisation: Diese Organisation von Arbeit gibt es traditionell in der Architektur und der Werbebranche, aber auch zunehmend im technischen Bereich, ja fast im gesamten Dienstleistungsbereich. Wir beobachten also einen doppelten Veränderungsdruck auf den ländlichen Raum. Zum einen wird die standardisierte Produktion, die eher in den Kleinstädten und im ländlichen Raum angesiedelt ist, zunehmend ins Ausland verlagert. Zum anderen gerät insbesondere die Infrastrukturversorgung im ländlichen Raum wegen des demographischen Wandels unter Druck.

Wie können kleinere und mittelgroße Städte auf diesen Trend reagieren bzw. welche Rolle werden sie zukünftig spielen?

Wenn wir den Gesamtzusammenhang betrachten, liegt sicherlich die Stärke der deutschen Stadtstruktur in ihrer Polyzentralität und in ihrer Vielfältigkeit, besonders im Vergleich z.B. zu den angelsächsischen Ländern. Diese Vielfalt aus Kleinstädten, Mittelstädten, Großstädten und Metropolen wird von den beschriebenen Veränderungen nicht infrage gestellt. Es gibt Menschen, für die eine Klein- oder Mittelstadt die bessere Wahl ist, z.B. weil die Mieten dort günstiger sind, weil sie dort das passende Wohnungsangebot oder die richtige Schule für ihre Kinder finden oder aber weil sie dort in gute Nachbarschaftsnetzwerke integriert sind. In diesem Gesamtzusammenhang haben die Kleinstädte durchaus eine große Chance. Aber das Städtesystem muss sich neu austarieren. Die einzelnen Städte müssen ihre Rolle finden. Anstatt immer nur nach außen zu schauen, gilt es, die endogenen Potenziale auszubauen, die eigenen Leute in Wert zu setzen. Dann stehen sie gut da und sind attraktiv nach außen. Bei den dörflichen Strukturen sehe ich hingegen Probleme. Für manche könnte eine Neuausrichtung als Erholungsgebiet oder die ökologische Landwirtschaft eine Zukunftsperspektive sein.

In Ihrem Vortrag haben Sie von einer funktionellen Ausdünnung der Stadt gesprochen. Woran machen Sie diese Entwicklung fest, und welches sind die Ursachen dieser Entwicklung?

Früher haben wir vor einer Verödung der Innenstädte gewarnt. Wenn wir jetzt durch die Großstadt gehen, zeigt sich ein ganz anderes Bild: Die Stadt als Konsumtempel, als Erlebnisraum. In diesen Latte-Macchiato-Vierteln fragt man sich: Wo verdienen die Leute ihr Geld? Die große Gefahr besteht darin, dass keine Stadt auf Dauer allein von hochwertigen Dienstleistungen oder der Internet-Boheme leben kann. Wir müssen deswegen überlegen, wie wir die materielle Produktion in die Stadt zurückholen können. Die Risiken einer zu starken De-Industrialisierung sind durch die Wirtschafts- und Finanzkrise deutlich geworden. Wenn wir unseren Blick z.B. nach England oder die USA richten, zeigt sich, dass Deutschland unter anderem deshalb weniger stark von der Krise getroffen wurde, weil wir diese extreme Form der De-Industrialisierung nicht mitgemacht haben. Im Augenblick orientieren sich diese Länder an dem deutschen Modell der Verbindung von höherwertiger Industrie und Dienstleistung. In den USA gibt es sogar eine Kampagne für eine Re-Industrialisierung. Mein Credo lautet deshalb: Produktion zurück in die Stadt! Wir müssen versuchen, Teile der ausgelagerten Produktionsfunktionen wieder in die Stadt zurückbringen. Dies kann uns gelingen, wenn wir die industriellen Funktionen, die noch da sind, stabilisieren, neue Formen von städtischen Manufakturen unterstützen und wenn wir die Produktion regenerativer Energie so weit wie möglich in die Städte zurückbringen. Ganz besonders interessant und faszinierend finde ich in diesem Zusammenhang die FabLabs1 mit ihren 3D-Druckern2, die in Zukunft quasi jedem ermöglichen könnten, eigene maßgeschneiderte Produkte herzustellen. Ich bin überzeugt, dass durch diese technischen Möglichkeiten und die Open-Source-Bewegung wieder materielle Produktion in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren in unsere Städte zurückkommen wird. Das sind natürlich Spezialanwendungen, z.B. die Herstellung von Prothesen und Hörgeräten im Bereich der Medizintechnologie und speziellen Designprodukten. Aber wir sollten sensibel sein müssen für solche Entwicklungen. Städtische Manufakturen können nicht nur eine Antwort bieten auf die funktionelle Ausdünnung der Stadt, sondern auch einen wichtigen Beitrag leisten zur Integration von Zuwanderern in den Arbeitsmarkt.

Welche Möglichkeiten hat die Stadtplanung im Bereich der Flächennutzungsplanung, um eine Rückverlagerung der Produktion in die Städte zu unterstützen? Sind diese Eingriffsmöglichkeiten ausreichend?

Die zentrale Frage wird die Dichte in der Stadt sein. In der Nachkriegszeit haben wir im Grunde genommen suburbane Verhältnisse in der Stadt geschaffen, indem wir die ganze Produktion an den Stadtrand gedrängt haben. Damit haben wir mehr Arbeitsplätze zerstört, als wir durch die Wirtschaftsförderung neu geschaffen haben. Wir müssen uns deswegen zu größeren Dichten durchringen und Wohnen und Arbeiten wieder stärker mischen, z.B. durch eine Neuerfindung des Gewerbehofes. Die Etagenfabriken in New York, die Drägerwerke in Lübeck und die neuen Gewerbehöfe in München bieten hierfür interessante Anknüpfungspunkte. Wir brauchen den Mut für Experimente und eine neue Kultur der Akzeptanz. Wir brauchen auch andere Planungsinstrumente und vielleicht auch eine Modifikation der Baugesetzgebung. Wenn wir z.B. die Entsorgung dezentralisieren, haben wir in den Gebieten, in die wir die ganze Entsorgung abschoben haben, wieder Freiräume für städtische Entwicklung. Ich wünsche mir eine internationale Bauausstellung, die sich dieser Aufgabe der neuen Funktionsmischung annimmt.

Eine Branche, die momentan sehr stark wächst, ist die Logistikbranche. Diese hat aber einen enormen Flächenverbrauch. Stößt hier Ihre Vision von der Nutzungsmischung und der Produktion in der Stadt an eine Grenze?

Die Produktion in der Stadt kann nur im Zusammenhang mit einer neuen Stadtlogistik erfolgen. Bisher ist es so, dass man die Logistik vom Produzenten zum Konsumenten hin organisiert. Wir müssen es aber genau umgekehrt machen, indem wir ermitteln, was wir wo brauchen und die Ladung dann intelligent zusammenstellen, so dass die verschieden Bereiche der Stadt mit möglichst wenig Aufwand und Belästigung versorgt werden können. Über das Wissen und die technischen Möglichkeiten verfügen wir bereits, eine intelligente Versorgungslogistik ist nur aus Bequemlichkeit noch nicht umgesetzt worden. Seit Jahren gibt es Konzepte für eine stadtverträgliche City-Logistik mit einem System von Logistikzentren am Stadtrand. Diese sind zugleich Brechpunkte, ab denen kein Schwerlastwagen mehr in die Stadt reinfahren darf. Die Innenstädte müssen stattdessen mit stadt- und umweltverträglichen Fahrzeuge zielgerichtet versorgt werden.

Herr Professor Läpple, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview mit Prof. Dr. Dieter Läpple (HafenCity Universität Hamburg) führte Gabriele Schmidt im Rahmen des ARL-Kongresses 2013.

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1Ein FabLab (engl. fabrication laboratory – Fabrikationslabor) ist eine offene, demokratische Hightech-Werkstatt, die Privatpersonen ermöglicht, mit industriellen Produktionsverfahren unkompliziert Einzel-stücke anzufertigen. FabLabs sind meistens mit 3D-Druckern, Laser-Cuttern, CNC-Maschinen und Pressen zum Tiefziehen oder Fräsen ausgestattet (vgl. www.wikipedia.org).

2Ein 3D-Drucker ermöglicht das Anfertigen von dreidimensionalen Werkstücken auf der Grundlage einer Computerzeichnung. Der Aufbau erfolgt computergesteuert aus einem oder mehreren flüssigen oder pulverförmigen Werkstoffen (z.B. Kunststoffe, Kunstharze, Keramiken oder Metalle) (vgl. www.wikipedia.org).

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